Kriterien zur qualitativen Einschätzung sowie der Entwicklung von Bildungsmaterialen zu Deutschem Kolonialismus für die SEK I und SEK II
Was zeichnet gutes Lernmaterial zu Deutschem Kolonialismus aus? Welche inhaltlichen und didaktischen Elemente sind besonders wichtig? Und welche Handlungsmöglichkeiten können Kinder und Jugendliche in der Auseinandersetzung mit Deutschem Kolonialismus erlangen?
Noch immer können Schüler:innen ihre Schullaufbahn beenden, ohne dass sie über Deutschland als Kolonialmacht sprechen. In den Lehrplänen der meisten Bundesländer ist die Auseinandersetzung mit dem Deutschen Kolonialismus nicht verpflichtend. Die „Geschichten von Versklavung, kolonialer Gewalt, Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung, aber auch von Selbstbehauptung und Widerstand“ (Berlin Postkolonial et al. 2014) im schulischen Kontext aufzugreifen und die „500-jährige – auch deutsche – koloniale Geschichte als unmittelbar die Gegenwart betreffend zu verstehen“ (ebd.), forderten Initiativen der Zivilgesellschaft bereits 2014 in einer Stellungnahme für den Orientierungsrahmen zum Globalen Lernen. Denn nur so könne „globalhistorisches Verantwortungsbewusstsein entwickelt werden, aus dem heraus im Sinne einer ‘restorative justice‘ gehandelt werden kann“ (ebd.). Diese Forderungen haben auch 2025 nicht an Aktualität verloren.
Denn neben der unzureichenden Verankerung der Thematik in die Lehrpläne bilden auch qualitativ hochwertige Lernmaterialien ein Problem. Zwar ignorieren Lehrbuchverlage das Thema heute nicht mehr komplett – doch häufig wird der despotische und gewalttätige Charakter der deutschen Kolonialherrschaft verharmlost und lokale Bevölkerungen als passiv, geschichts- und widerstandslos, auf rassistische oder schlicht faktisch falsche Art und Weise dargestellt (Geiger 2021; Vogel 2020). Hinzu kommt, dass koloniale Kontinuitäten meist gar nicht erwähnt werden: koloniales Wissen wird unkritisch reproduziert, Ungleichheiten globaler Arbeitsteilung und andere Ursachen für extreme Wohlstandsgefälle sowie rassistische Gewalt nicht hinreichend thematisiert (vgl. Diallo, Niemann & Shabafrouz 2021; Kleinschmidt 2021). Auch fehlt im Sinne eines „globalhistorischen Verantwortungsbewusstsein“ (Berlin Postkolonial et al. 2014) die Anregung zur persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in koloniale Muster. So könnte die kritische Analyse der eigenen Familiengeschichte, Konsumgewohnheiten und zwischenmenschlichen Beziehungen aufschlussreiche Hinweise auf koloniale Implikationen geben.
Derzeit mangelt es an einer großen Auswahl, an frei verfügbaren qualitativ hochwertigen Lernmaterialien, die sich explizit mit dem Deutschem Kolonialismus beschäftigen. Um Bildungsmaterial zum Deutschen Kolonialismus zu entwickeln, aber auch existierendes Material hinsichtlich seiner Qualität beurteilen zu können, braucht es Kriterien, an denen sich Bildungsakteur*innen und vor allem Lehrkräfte orientieren können.
Die hier entwickelten Kriterien sind deshalb zum einen als Orientierung zur Einschätzung von Materialien und zum anderen zur Unterstützung bei der Entwicklung von Lernmaterialien zu Deutschem Kolonialismus gedacht. Die primären Kategorien und Leitfragen können bei der Beurteilung und Entwicklung von Bildungsmaterialien, wie eine Check-Liste benutzt werden. Die Unterkategorien dienen als Beispiele und sind in ihrer Gänze nicht bei allen Bildungsmaterialien zu berücksichtigen, sie können aber bei Unsicherheiten richtungsweisend sein. Wir verstehen sie zudem nicht als abgeschlossen, sondern freuen uns über weitere Anregungen und Zielsetzungen in diesem Bereich.
1. Inhaltliche Qualität
1.1 Globaler Kontext
Leitfrage: Wird der geografische Rahmen und die globale Bedeutung des Deutschen Kolonialismus ersichtlich?
• Erwähnung einschneidender Ereignisse für globale koloniale Ordnung z.B. Herero-Nama-Genozid, Maji- Maji-Krieg, Yihetuan-„Boxer“-Krieg, Kongo-Konferenz, 1. Weltkrieg, Versailler Vertrag
• Einordnung in europäische Expansionsbestrebungen, „Scramble for Africa“ und imperialistische Konkurrenz als Motor für Kolonialismus
• Vollständiger Überblick und Nennung der Deutschen Kolonien in Afrika, Asien & Ozeanien sowie Orte, die den deutschen Kolonien vorausgingen wie z.B. Fort Groß Friedrichsburg
• Thematisierung der Unterschiede zwischen Kolonien z.B. Togo als sogenannte wirtschaftliche Musterkolonie, Namibia als Siedlungskolonie
• Thematisierung der Rolle von Institutionen wie z.B. Kirchen, Wirtschaftsverbänden
• Problematisierung der Transformation und rassistischen Degradierung traditioneller Strukturen in koloniale Strukturen: z.B.: König:innen vs. Oberhäuptling; lokale Konsumkulturen vs. exportorientierte „Cash Crops“
1.2 Antikolonialer Widerstand
Leitfragen:
Wird die lokale Bevölkerung als handelnde Subjekte abgebildet?
Ist antikolonialer Widerstand ein zentrales Thema?
● Thematisierung des gesellschaftlichen Lebens, Ökonomien, Sprachen & Schriften etc. in betroffenen Gebieten vor Deutschen Kolonialpolitiken
● Abbildung unterschiedlicher Widerstandsstrategien: Bewegungen, Petition, Demonstrationen, Besetzungen, Schriften, Boykott, Musik, Rituale etc.
● Netzwerke der Diaspora mit den Akteur:innen vor Ort
● Abbildung multipler Konfliktlinien zwischen Kolonialmacht und lokaler Bevölkerung
● Momente der Solidarität zwischen lokalen Communities sowie zwischen antikolonialen/antiimperialen Bewegungen weltweit
1.3. Rassismus
Leitfrage: Wird Rassismus als Legitimationsstrategie für koloniale Politiken thematisiert und seine Funktionsweise erklärt?
● Verdeutlichung der Rolle von Institutionen und Vereinigungen bei der Entwicklung und Verbreitung von rassistischen Zivilisationstheorien, z.B. Universitäten, Museen, Kirchen, Wirtschaftsverbände etc.
● Darstellung der mehrdimensionalen Struktur der Gewalt: militärische Gewalt, körperliche Gewalt, mentale/seelische Gewalt, kulturelle Gewalt, Zwangsarbeit, Militärfeldzüge, Ressourcen, Ausbeutung
● Auseinandersetzung mit alltäglichen Realitäten von Rassismus: z.B. Segregation in den Kolonien
● Aufgreifen von intersektionalen Überschneidungen: z.B. das Verhältnis von Rassismus und Sexismus
1.4. Gegenwartsbezug
Leitfrage: Werden koloniale Kontinuitäten thematisiert und eingeordnet?
● Erklärung der Kontinuität von Rassismus z.B. in Bezug auf internationale Arbeitsteilung, EU-Grenz- & Mobilitätsregime
● Auseinandersetzung mit neokolonialer wirtschaftlicher Abhängigkeit: z.B. in Bezug auf Rohstoffausbeutung und ungleicher Gewinnaufteilung zwischen europäischen Konzernen und lokalen Akteur:innen
● Thematisierung von Bewegungen und Personen, die sich für Dekolonialisierungsprozesse einsetzen
● Erörterung von politischen Debatten z.B. um Reparationen, Restitutionen, Landfragen, Erinnerungskultur und den unterschiedlichen Interessen und Perspektiven von Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft
● Problematisierung kolonial geprägter Städte z.B. Statuen, Namen von Straßen, Plätzen, Gebäuden, Architektur
● Problematisierung von Alltagsreproduktion von kolonialem Denken und Wissen: Medien, Musik, Bücher etc.
● Kolonialitätskritische Reflektion von Programmen und Bewegungen, die gesellschaftliche Missstände anprangern oder bearbeiten, aber kolonial geprägte Abhängigkeitsverhältnisse weiter reproduzieren z.B. Fairtrade, Klimabewegungen
2. Didaktische Qualität
2.1 Perspektivenvielfalt
Leitfrage: Sind verschiedene Perspektiven und gesellschaftliche Diversität erkennbar?
● Verschiedene Perspektiven als solche darstellen, z.B. Kolonialist:innen, Widerstands-kämpfer:innen, deutsche antikoloniale Opposition
● Darstellung aller Geschlechter als handelnde Akteur:innen
● Auseinandersetzung mit Widerstandsnarrativen z.B. Briefe, Zitate, mündliche Überlieferungen in Musik und Geschichten
● Kritische Diskussion kolonialer Propaganda z.B. koloniale Narrative in Literatur, Werbeplakate, Parlamentsdebatten
2.2 Diskriminierungssensibilität
Leitfrage: Gestaltet sich die Sprache, Bildauswahl und Quellenauswahl diskriminierungssensibel?
● Berücksichtigung der Heterogenität von Schüler:innen, mit denen gearbeitet wird: z.B. rassifizierte oder weiße Lernende und Lehrende (z.B. Empowerment: Safer Spaces für BIPoC, z.B. Critical Whiteness)
● Keine Reproduktion diskriminierender Stereotype
● Benutzung von zugänglicher, inklusiver und nicht-rassistischer Sprache
● Keine Reproduktion rassistischer Bilder und Texte
2.3 Quellenvielfalt- und qualität
Leitfrage: Stützt sich das Material auf vielfältige Quellen und ordnet es die Quellenlage ein?
● Benutzung von vielfältigen Medien z.B. wissenschaftliche Texte, Originalquellen, Bilder, Videos/Audios
● Wissenschaftlich fundierte Quellen und nachvollziehbare, transparente Referenzen
● Angebot von weiterführenden Medien und Initiativen z.B. Literatur, Filme, Organisationen, Petitionen
● Problematisierung der Gründe für Quellenlage: z.B.: ausführliche Dokumentation des Schriftverkehrs kolonialer Akteur:innen, während Widerstands-kämpfer:innen nicht unbedingt schriftlich kommunizierten Mündliche Überlieferungen oder audiovisuelles Material als alternative Quellen sichtbar machen
2.4 Zielgruppenorientierung
Leitfrage: Ist ein zielgruppenspezifischer Zugang zum Thema erkennbar?
• Altersangemessene eigenständige Reflektionsprozesse werden angestoßen
• Orientierung an der Lebensrealität von Schüler:innen; Anknüpfungspunkte herstellen, z.B. ein lokalgeschichtlicher Bezug, altersspezifische Konsumgewohnheiten etc.
• Lernziele und Kompetenzerwerb sind ersichtlich, z.B. im Fach Geschichte entlang der Kompetenzen: Deuten; Analysieren; Methoden anwenden; Urteilen und sich orientieren; Darstellen – historisch erzählen
• Methodenvielfalt und dadurch Zugang zu unterschiedlichen Lernformen
• Bezug zu Lehrplänen und Schulfächern
2.5 Handlungsmöglichkeiten
Leitfrage: Zeigt das Material Möglichkeiten auf, das neu erworbene Wissen einzusetzen?
● Entwicklung dekolonialer Kompetenz: kolonial geprägte Machtverhältnisse können kritisch hinterfragt werden
● Verständnis von globalen Verflechtungen und koloniale Kontinuitäten: Verbindung zwischen Geschichte/Vergangenheit und Gegenwart wird verstanden
● Befähigung zur Reflektion der eigenen Position in globalen Machtstrukturen
● Befähigung, Kolonialapologetische/-relativierende Narrative und Rassismus zu erkennen und kritisch zu hinterfragen
● Material enthält Anregungen, sich weiter antikolonialistisch und antirassistisch zu engagieren
Autor:innen & Referenzen
Autor:innen: Elias Aguigah, Katharina Lipowsky (Initiative Perspektivwechsel e.V.(IPW))
Redaktion: Dolly Afoumba (IPW), Prof. Dr. Maureen Maisha Auma, Michelle Crooks (Decolonize Berlin e.V.), Tahir Della (ISD), Hilaire Djoko (IPW), Peter Che Nfon (IPW), Carolin Philipp (glokal), Sabine Seiffert (BER), Charlotte Shost (IPW), Jaqui Steinberger (BER), Sylvia Werther (BER).
Referenzen:
Berlin Postkolonial/glokal/IMAFREDU/karfi/moveglobal: Decolonize Orientierungsrahmen. Offener Brief. https://decolonizeorientierungsrahmen.wordpress.com/, 2014.
Diallo, Aïcha, Annika Niemann, Miriam Shabafrouz (Hg.): Untie to tie. Koloniale Fragmente im Kontext Schule. Bundeszentrale für Politische Bildung, https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Untie_to_tie_Flip_DE-EN.pdf, 2021.
Geiger, Wolfgang: Der deutsche Kolonialismus in aktuellen Lehrbüchern. Eine kritische Analyse. In: Geiger, Wolfgang, Henning Melber (Hg.): Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und Geschichtsvermittlung. Brandes & Apsel 2021.
Kleinschmidt, Malte: Dekoloniale politische Bildung. Eine empirische Untersuchung von Lernendenvorstellungen zum postkolonialen Erbe. Bürgerbewusstsein: Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung. Springer VS 2021.
Melber, Henning: The Long Shadow of German Colonialism. Amnesia, Denialism and Revisionism. Oxford University Press 2023.
Vogel, Steffen: Kolonialismus im Schulbuch. Was Schüler:innen heutzutage über den Kolonialismus lernen. Rosalux, https://www.rosalux.de/news/id/42834/kolonialismus-im-schulbuch 20.08.2020.
Zimmerer, Jürgen: Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Reclam 2023.
antikolvi.org
Antikoloniale Visionen – ein Projekt von: